17.10.2017 21:38:00 CEST Eine sich selbst organisierende Produktion ist machbar. Aber nicht ohne Umdenken.
Die Produktlebenszyklen werden in vielen Branchen stetig kürzer. Allerdings sind neue Generationen oder Varianten von Produkten immer nur so schnell marktfähig, wie die dafür nötigen Fertigungsanlagen verfügbar sind. Nun kündigt sich ein Paradigmenwechsel an: Die sich selbst organisierende, digitalisierte Fertigung verspricht schnellere Lieferzyklen, weil Rüstzeiten wegfallen und Staus in der Produktion minimiert werden.
Nicole Steinicke von Industrielle Automation im Redaktionsgespräch mit Dr. Martin Steyer, Leiter Integrated Solutions, und Botond Draskoczy, Experte für Materialflusssimulation, beim Hightech-Maschinenbauer Manz AG in Reutlingen.
Herr Dr. Steyer, die Vision einer sich selbst organisierenden Produktion: Was verbirgt sich dahinter?
Martin Steyer: Mit zwei Anforderungen werden wir immer öfter konfrontiert, und zwar aus ganz unterschiedlichen Branchen: Baut uns eine hochstandardisierte und automatisierte Fertigungslinie, mit der wir auch kleinere Stückzahlen prozesssicher und kosteneffizient produzieren können. Und zweitens: Die laufende Produktion muss hochflexibel sein und sich innerhalb kürzester Zeit umrüsten lassen, um bei der zunehmenden Variantenvielfalt unserer Produkte und häufigen Modellwechsel innerhalb von Minuten oder gar Sekunden vornehmen zu können. Bis hin zu Losgrößen von Eins, also einer komplett individualisierbaren Massenfertigung oder auf Englisch Mass Customization.
Um diese beiden Forderungen erfüllen zu können, muss eine Fertigungslinie natürlich komplett digitalisiert sein. Das ist die Basis. Darauf aufbauend beinhaltet unsere Vision einer sich selbst organisierenden Produktion zwei Ebenen: die der Produktionsverfahren und die der Produktionslogistik.
Bei den Produktionsverfahren setzen wir auf „werkzeuglose“ Prozessanlagen, die sich allein software-gesteuert umrüsten lassen. Beispiele dafür sind Laserschneiden oder Laserschweißen. Weiterhin gilt für eine möglichst hohe Materialeffizienz: Additiv geht vor subtraktiv. Bei immer kleineren Stückzahlen einer Serie verschiebt sich der Amortisationspunkt zugunsten der additiven Verfahren, wie zum Beispiel dem von Manz entwickelten Patch Placement. Bei diesem Verfahren kommen unterschiedliche, flexible Materialien von der Rolle, werden per Laser geschnitten und anschließend im Schichtbauprinzip miteinander verbunden. Damit lassen sich Bauteile in einer unendlichen Vielzahl von Geometrien, Farben oder Materialkombinationen realisieren – bei auf Leichtbau optimierter Stabilität.
Botond Draskoczy: Die zweite Ebene einer sich selbst organisierenden Fertigung ist die der Produktionslogistik, also der Art der Verkettung der Prozessanlagen: In einer Welt der Mass Customization wird es keine zentrale Produktionsplanung und -steuerung mehr geben. Es gibt keine feste Zuordnung der einzelnen Fertigungsschritte zu bestimmten Maschinen. Die Produktion ist vielmehr dynamisch und kann ihre Abläufe selbständig und flexibel ändern.
Die damit verbundene steigende Komplexität ist aber nur beherrschbar, wenn sich Prozesse gegeneinander austauschen lassen. Die Prozessanlagen müssen deshalb so konfiguriert sein, dass sie sich gegenseitig ersetzen können. Ein Produkt kreist dann so lange durch eine Linie, bis alle Fertigungsschritte abgearbeitet sind und es schließlich auf seinem Carrier ausgeschleust wird.
Die für eine solche Fertigung nötigen Technologien sind längst verfügbar. Welches sind die Hürden, um Ihre Vision in die Realität zu holen?
Martin Steyer: Wer sich auf ein solches Produktionsmodell einlässt, muss umdenken. Wenn der Weg eines Produkts durch eine Fertigung keinen starren Regeln mehr folgt, kann auch niemand wissen, welchen Weg es nehmen wird. Den Maschinen die Entscheidungen überlassen – auf diesen Kontrollverlust muss ich mich erst einmal einlassen als Fertigungsleiter.
Aber wir wissen inzwischen, dass ein flexibel verkettetes System störungstoleranter als eine starr verknüpfte Linie ist – eben, weil die Prozessanlagen füreinander einspringen können, wenn ich eine gewisse Redundanz projektiert habe. Hinzu kommt: Ein sich selbst organisierendes System läuft umso stabiler, je größer es ist. Das ist dann eine Art eingebaute Selbstheilung.
Botond Draskoczy: Das heißt aber auch, dass in den Fertigungsunternehmen Simulationen immer wichtiger werden, Simulationen von Gesamtprozessen oder auch Materialflüssen. Diesen Simulationen muss ich vertrauen. Zum Beispiel kann ich simulieren, wie sich unterschiedlich schnell getaktete Prozesse miteinander verketten lassen: Für langsamere Prozesse muss ich dann mehr Anlagen einplanen, als für schnellere, um das System in einem optimalen Gleichgewicht zu halten.
Nun entscheidet sich ein Unternehmen für ein solches Konzept – nur die allerwenigsten werden aber unbegrenzte Ressourcen dafür investieren können. Gibt es einen schrittweisen Einstieg?
Martin Steyer: Jein, denn an vollständig digitalisierten Prozessen führt kein Weg vorbei. Nur so kann man das Potenzial einer sich selbst organisierenden Produktionslinie ausschöpfen. Trotzdem können Unternehmen klein einsteigen, mit nur wenigen Maschinen und entsprechend geringem Zeitaufwand für die Prozessinbetriebnahme. Sie werden so viel schneller in Produktion gehen, als früher. Ein fehlerbereinigtes und optimiertes System lässt sich später hochskalieren, da wir ja von gleichartigen Prozessanlagen ausgehen, die sich gegenseitig ersetzen können.
Botond Draskoczy: Die Skalierbarkeit gilt auch für neue Funktionen, die ich abbilden möchte: Anwender können neue Prozesse oder neue Materialien zuerst auf einer Prozessanlage testen, während die übrigen weiterproduzieren, wie bisher. Eine neue Funktion kann anschließend in alle Anlagen integriert werden. Die beliebige Verkettung der Anlagen ist übrigens auch ein Riesenvorteil, wenn die Produktionsfläche nicht optimal ist.
Welche Prozesstechnologien werden Ihrer Meinung nach gefragt sein für die Umsetzung von sich selbst organisierenden Fertigungssystemen?
Martin Steyer: Als sogenannte „Enabler“ sehe ich flexible Technologien, Automations- und Handlingssysteme, etwa Roboter oder Laserscanner – alles mit frei programmierbaren Achsen. Wie gesagt: Es geht immer darum, Rüstaufwand zu vermeiden. Enorm wichtig werden auch Messtechnik und optische Inspektionssysteme: Zwar kann niemand den Weg eines Produkts durch eine Fertigungslinie voraussagen, aber ich will natürlich lückenlos wissen, welchen Weg es genommen hat, um die Qualität sicherzustellen. Bei den zu verarbeitenden Materialien ist das Spektrum riesig: Mit Kunststoffen, CFK oder Textilien von der Rolle, als Folien oder aus Magazinen haben wir bereits zahlreiche Erfahrungen gesammelt.
Welche Bedeutung hätten solche dynamischen Produktionssysteme für die Wertschöpfungsketten in verschiedenen Branchen insgesamt?
Botond Draskoczy: Kunden, also auch Konsumenten, und Entwickler werden künftig viel direkter einbezogen werden: über webbasierte Produkt-Konfiguratoren, Entwicklerplattformen oder digitale Materialdatenbanken und eine logikbasierte Mustererzeugung. Begriffe wie „vernetzte Produktion“ oder „open source“ erhalten damit eine viel breitere Bedeutung, als bisher. Beispiele dafür sind die kundenindividuelle Massenproduktion in der Schuhindustrie oder maßgeschneiderte Sportgeräte und medizinische Gehhilfen. In all diesen Anwendungsfällen können Kundendaten über Größe und Gewicht des Konsumenten oder gewünschte Farbe und Ausstattung digital in die Produktion übertragen und verarbeitet werden.
Martin Steyer: Ich sehe drei große Trends in der Industrie: Sich selbst organisierende Produktionslinien werden sich überall dort durchsetzen, wo Großserien-Hersteller mit einer nur schwer beherrschbaren Variantenvielfalt ihrer Produkte zu kämpfen haben und deshalb höchste Anforderungen an die Flexibilität ihrer Fertigung stellen.
Wir werden weiterhin, analog zur Halbleiterbranche, eine Aufspaltung in Produktentwickler und unabhängige, hochflexible Auftragsfertiger sehen, die zum Beispiel Kleinserien von bis zu 1.000 Stück innerhalb von 24 Stunden liefern können. Diese Auftragsfertiger könnten sich zu größeren digital angebundenen Produktionszentren oder -Clustern entwickeln.
Drittens erwarte ich bei dem stetig steigenden Automatisierungsgrad und der dadurch gewonnenen Unabhängigkeit von Billiglohnländern, dass sich die Fertigung in vielen Branchen wieder näher beim Kunden ansiedeln wird. Als lokal vernetzte Produktion sind das gute Chancen für „Made in Germany“.